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Industrie 4.0 und der Mittelstand

Die getunte Fabrikhalle allein hilft niemandem.

Wundern Sie sich auch immer? Da finden sich in den diversen Autoportalen häufig diese verdächtig günstigen gebrauchten Boliden, die nur noch partiell mit Mercedes, BMW [&] Co. zu tun haben. Laufleistung absolut okay, aber dennoch zu Preisen, die skeptisch machen. Der Blick in den Fahrzeugschein offenbart dann die Gründe. Im Innern dieser aufgemotzten Fahrzeuge werkeln Motoren mit 500 und sogar mehr PS. Ansonsten sind oftmals nur die Reifen etwas breiter, ein paar Zierleisten sind dran, und auf der Fahrzeugrückseite des tiefergelegten Mobils prangt ein ergänzendes Logo. Ansonsten ist es mehrheitlich eine Limousine von der Stange – exakt dasselbe Problem grassiert derzeit in vielen deutschen Industrieunternehmen, wenn es um das Internet of Things und Industrie 4.0 geht.

Der Schrauber deckt es auf
Dazu braucht man lediglich einen wirklich kundigen Schrauber befragen. Die derart getunten Fahrzeuge sind oft gar nicht für die hohe PS-Zahl ausgelegt. Die Motoren machen teilweise bereits nach 70.000 Kilometern ernste Probleme. Es wackelt, knirscht und knarzt. Die Ventile ächzen und stöhnen, der Öldruck presst wie ein übermächtiger Wrestler, kurz und gut: es ist das Problem des Sportwagens, der regelrecht in die Limousine gepresst worden ist. Es ist sozusagen kein ganzheitliches Fahrzeug, es ist ein fauler Kompromiss. Und das beweisen nicht zuletzt die Ramschpreise auf Autoscout, Mobile und Co.

Ein solcher Fehler wiederholt sich gerade in der deutschen Industrie, und hier vor allem im Mittelstand. Grundproblem ist, dass auf der Maschinenebene – also im „Motorraum“ – noch fein digital gedacht wird. Da wird Software-Intelligenz eingepflanzt oder, ganz aktuell, gleich einer gesamten Maschinenstraße eine Blockchain implementiert. Das ist wichtig und richtig.

Unternehmensweite Digitalisierung entscheidend
Derlei Bemühungen sind aber wirkungslos, wenn Unternehmen ihre Geschäftsmodelle – das „Chassis“ – aber weiter so betreiben wie gewohnt. Denn Ziel von Industrie 4.0 kann es immer nur sein, die komplette Wertschöpfungskette bis zum Endkunden und den gesamten Lebenszyklus der Produkte zu betrachten. In einer weltweiten Befragung von SAP und Oxford Economics gaben jedoch nur drei Prozent der Führungskräfte an, dass sie eine unternehmensweite Digitalisierung erreicht haben. Digitalisierung ist aber die Grundvoraussetzung, um neue, digitale Geschäftsmodelle zu entwerfen. Eine McKinsey-Untersuchung berichtet dazu weiterhin, dass bereits jedes zweite hiesige Industrie-Unternehmen damit rechnet, dass branchenfremder Wettbewerb sein Kerngeschäft angreifen wird. Deshalb ziehen die Experten völlig berechtigt die Schlussfolgerung: Industrieunternehmen müssen spätestens jetzt entscheiden, welche strategisch wichtigen Kontrollpunkte sie in der Wertschöpfungskette beherrschen müssen, um sich als bedeutender Player im Markt zu positionieren. Und beherrschen meint in diesem Zusammenhang konkurrenzfähige digitale Dienste in einem starken Netzwerk anbieten zu können. Physische Produkte sind darin „nur“ noch ein Bestandteil dieser Services, etwa derart, Datenlieferant für das eigentliche Serviceangebot zu sein.

Übersetzt man die McKinsey-Fachsprache in alltägliches Deutsch, muss es lauten: Die Bosse im industriell geprägten Mittelstand müssen lernen loszulassen. Denn es heißt „welche strategischen Kontrollpunkte“ sie beherrschen müssen und eben nicht „alle strategischen Kontrollpunkte besetzen“. Also, wenn Teile des „Chassis“ sozusagen nicht mehr zeitgemäß sind, dann sollte man lieber andere strategischen Felder besetzen, als daran festzuhalten. Wie gesagt: Es ist wichtig, die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten, aber die unternehmensweite Digitalisierung meint nicht, auf Biegen und Brechen auch Überholtes zu modernisieren, was letztlich nur scheitern kann. Das erinnert doch sehr an die Nuller-Jahre, als sich der Mittelstand rühmte: „Wir sind jetzt auch im weltweiten Netz!“ – aber es hinter der Website weiterhin nach Schnellheftern und Ärmelschonern muffelte.

Die Großen machen´s vor
Eigentlich absurd, denn gerade die mittelständische deutsche Industrie sorgt seit Jahrzehnten auf den Weltmärkten mit ihren Innovationen für Furore. Offensichtlich mangelt es an Mut. Die Großen machen jedoch vor, was an Courage notwendig ist. Erneut lässt sich hierfür ein automobiles Beispiel heranziehen. Laut Medienberichten planen die eigentlich erbitterten Gegner Daimler und BMW ihre Carsharingdienste zusammenzulegen, um sich gegen die Konkurrenz, vor allem von Uber, zu wappnen. Übertragen auf die Industrie: Uber belässt auch hier einzelne Segmente der Wertschöpfungskette so wie sie sind und weiß, dass das Konzept ausschließlich mit selbstständigen Fahrer mit eigenen Fahrzeugen funktionieren kann. Jedoch der Kern, metaphorisch gesprochen, steht auf einem digitalen Chassis, das durchdacht und ganzheitlich ist. Kein faules Tuning also.

Gastautor Sven Hansel, IT- und Wirtschaftsjournalist


Bild: Nicht nur den Motor aufpumpen. In der digitalen Industrie zählt das Ganzheitliche.

 

 

 

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